Unnötige Vitamin-D-Messungen, zu häufige Gesundheitschecks oder überflüssige Eisensubstitutionen und Bluttransfusionen: Die moderne Medizin macht vieles möglich. Doch nicht alles, was technisch möglich ist, ist auch medizinisch sinnvoll. Es gibt Behandlungen und Untersuchungen, die für Patientinnen und Patienten keinen Mehrwert darstellen. Hier setzt smarter medicine an. Nach dem Motto «Weniger ist manchmal mehr» will der gemeinnützige Verein die begrenzten Ressourcen in der Gesundheitsversorgung zum Wohle der Patientinnen und Patienten effizient und gewinnbringend einsetzen.
Das KSB setzt sich seit Jahren mit diesem Thema auseinander. «Mit dem Beitritt zum Verein smarter medicine setzen wir ein Zeichen und bekräftigen unsere Haltung», sagt Prof. Maria Wertli, die Direktorin des Departementes Innere Medizin am KSB. «In einem Akutspital sind wir täglich mit der Frage konfrontiert, welche Untersuchungen und Behandlungen wirklich zum Wohle unserer Patientinnen und Patienten beitragen. Mitunter muss man auch den Mut aufbringen, um ‘Nein’ zu sagen. Dies bedingt einen regelmässigen Austausch unter der Ärzteschaft sowie eine gute Kommunikation mit den Patienten und deren Angehörigen.»
Beispiel Magensäureblocker
Was das konkret bedeutet, erklärte François Fontana, Leiter der Intensivstation am KSB, neulich an einer Mitarbeiterveranstaltung anhand des Beispiels Magensäureblocker. Er verwies dabei auf Zahlen aus Deutschland, wo rund 3,7 Milliarden Tagesdosen verabreicht werden, was Tag für Tag zu Kosten von rund 2,5 Millionen Euro führt.
Zwar nehme die Zahl der Patienten mit Refluxleiden zu. Doch das allein könne den hohen Verbrauch nicht erklären. «Es liegt wohl auch daran, dass die Mittel als Alleskönner gelten und selbst bei Magenproblemen ohne klare Diagnose oder bei Reizdarm eingesetzt werden», sagt Fontana. Schätzungsweise achtzig Prozent der Magensäureblocker würden ohne Grund abgegeben.
Da solche Medikamente die Bildung von Magensäure fast vollständig unterdrücken, zieht dies Nebenwirkungen nach sich. Bei Langzeiteinnahme gibt es Hinweise auf erhöhtes Risiko für Knochenbrüche, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenentzündung oder Darminfektionen. „Gerade bei Routinebehandlungen gilt es, Therapien stets kritisch zu hinterfragen und konsequent eine Nutzen-Schaden-Analyse vorzunehmen“, lautet das Fazit von Fontana, der seit sechs Jahren an der Pflegeschule Vorträge zum Thema «Choosing Wisley» hält.
Erstes Aargauer Spital
Das KSB ist das erste Spital im Aargau, das dem Verein smarter medicine beitritt, dessen Partnernetzwerk inzwischen 19 Spitäler umfasst. «Wir wollen uns aktiv in die Diskussionen einbringen und so einen Beitrag zu einem effizienten und effektiven Gesundheitswesen leisten», sagt Maria Wertli.
Die Handlungsfelder des Vereins smarter medicine sind vielschichtig. Die Bandbreite reicht von der Veröffentlichung unnötiger Behandlungen aus den verschiedenen medizinischen Fachgebieten und Gesundheitsberufen über die Förderung von Forschungsprojekten bis hin zum Empowerment von Patientinnen und Patienten. Letztere sollen ermutigt werden, mit den Gesundheitsfachkräften in einen Dialog auf Augenhöhe zu treten.
Kernstück der Aktivitäten sind sogenannte «Top-5-Listen» aus allen medizinischen Fachdisziplinen, auf denen je fünf Behandlungen zu finden sind, die in der Regel keinen Nutzen bringen. Inzwischen sind in der Schweiz rund 20 Top-5-Listen veröffentlicht worden, weitere zwanzig sind in Entstehung.
Dialog auf Augenhöhe
«Bald werden medizinische Fachgesellschaften oder Organisationen von Gesundheitsberufen, die noch keine Top-5-Liste erarbeitet haben, in der Minderheit sein», sagt Dr. med. Lars Clarfeld, Geschäftsführer von smarter medicine. Die Listen richten sich nach den Empfehlungen für eine nachhaltige, effiziente und evidenzbasierte Medizin und beruhen auf nationalen und internationalen Studien.
Die Massnahmen der Top-5-Listen sind mit Risiken verbunden, die potenziell grösser sind als deren Nutzen für die Patientinnen und Patienten, weshalb auf eine solche besser verzichtet oder diese zumindest kritisch geprüft werden soll. Dies erfordert jedoch immer erst ein ausführliches Gespräch zwischen Gesundheitsfachperson und Patientin oder Patient, da jeder Fall individuell beurteilt werden muss und keine Behandlung à priori vorenthalten wird.
Manchmal ist weniger mehr: François Fontana und Maria Wertli.