Wie wird mit kritischen Situationen und Fehleinschätzungen umgegangen? Diese Frage berührt den Kern verantwortungsvoller Medizin. Für Prof. Maria Wertli, Chefärztin am KSB, ist klar: Eine transparente, von Vertrauen getragene Fehlerkultur ist kein Nebenschauplatz, sie ist zentral für die Qualität und Sicherheit der Behandlung. Und: Es braucht Vorbilder in Führungsrollen. Es sind also die Chefärztinnen und -ärzte, die Oberärzte, die die Fehlerkultur vorleben müssen.
Prof. Wertli tut dies bewusst in der geschützten Atmosphäre regelmässiger, so genannter M&M-Besprechungen, in denen medizinische Verläufe kritisch reflektiert werden. «Dort spreche ich eigene Fehler offen an, auch vor jungen Kolleginnen und Kollegen. Eingangs sage ich immer: Alles, was in diesem Raum besprochen wird, bleibt auch in diesem Raum.» Denn nur wer offen ist, kann dazulernen.

Fokus auf Ursachen
Die Auseinandersetzung mit Fehlern ist in der klinischen Praxis oft mit Hemmungen verbunden. Wer Verantwortung trägt, spürt den Druck, alles richtig machen zu wollen. Ein Ideal, das mit der Realität nicht immer vereinbar ist. Maria Wertli, die zugleich Präsidentin der Qualitätskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin SGAIM ist, betont: «Ich kenne die Angst, Fehler zuzugeben, sie ist nachvollziehbar.»
Ihr Anliegen ist es, Schuldzuweisungen durch eine konstruktive Ursachenanalyse zu ersetzen: «Wenn wir Fehler nicht anschauen und analysieren, ignorieren wir womöglich ein systemisches Problem – und nehmen in Kauf, dass der Fehler sich kontinuierlich wiederholt.» Oft spielen nicht individuelle Fehlleistungen die entscheidende Rolle, sondern Abläufe, die unter hoher Belastung ins Wanken geraten. Wer diese Muster erkennt, legt den Grundstein für nachhaltige Verbesserungen im gesamten System.

«Fehlerkompetenz will gelernt sein.»
Direktorin Departement Innere Medizin
Lernkultur statt Sanktionskultur
Doch nicht jede Entscheidung in der Medizin kann auf eindeutigen Fakten beruhen. Diagnosen und Behandlungen sind in vielen Fällen mit Wahrscheinlichkeiten verknüpft. Ein Beispiel: Wer Thoraxschmerzen als muskulär einstuft, geht zugleich das Risiko ein, eine Pneumonie oder einen Infarkt zu übersehen. Diese Unsicherheit nennt Maria Wertli «Sitting on the Risk» – eine Herausforderung, die medizinisches Fachpersonal täglich begleitet: «Wir haben das gelernt, aber wenn dann ein Fehler passiert, wird dieses Wissen oft überlagert von Schuldgefühlen.» Die Fähigkeit, mit diesen Spannungsfeldern umzugehen, gehört zur ärztlichen Verantwortung. Entscheidend ist, wie mit dem Ausgang einer Entscheidung umgegangen wird und ob daraus gelernt wird.
Die Chefärztin setzt sich für das Prinzip der «Just Culture» ein. Das ist ein Verständnis von Fehlern, das nicht auf Bestrafung beruht, sondern auf der Suche nach Lösungen. Dabei steht nicht die einzelne Person im Zentrum, sondern der Kontext des Geschehens. «Fehlerkompetenz will gelernt sein. Sie braucht Mut, Haltung und Strukturen, die Sicherheit geben», betont Maria Wertli.
Werkzeuge wie das CIRS (Critical Incident Reporting System) oder Konzepte aus dem von ihr herausgegebenen Buch «Qualität ist kein Zufall» unterstützen medizinische Fachpersonen dabei, aus Vorkommnissen strukturiert und systematisch zu lernen. Das gilt nicht nur für das Spital, sondern auch für die Hausarztpraxis.
Ein erster Schritt, weiss Prof. Maria Wertli, kann dabei ganz menschlich sein. Sie formuliert es so: «Wenn wir hingehen und sagen können: ‹Entschuldigung, ich habe mich geirrt›, dann ist das ein Anfang. In den meisten Fällen lassen sich Situationen so entschärfen. Nicht trotz, sondern wegen dieser Offenheit.»
Info:
Das Buch «Qualität ist kein Zufall» wurde von Prof. Maria Wertli herausgegeben und erscheint im Hogrefe Verlag, 2025. Die Publikation gibt konkrete Impulse und steht zudem kostenlos zum Download bereit: Weissbuch Qualität - SGAIM - SSMIG - SSGIM
Text: Simon David