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«Bei uns stirbt niemand allein»

10. Juni 2024

Patricia Stöcklin ist Leitende Ärztin auf der Intensivstation des KSB. Wie sie mit dem alltäglichen Sterben und dem Tod umgeht, und warum sie ihren Beruf trotzdem mit Freude ausübt.

Patricia Stöcklin, Sie behandeln fast täglich Menschen zwischen Leben und Tod. Wie halten Sie das aus?

Die Menschen, die ich sehe, sind alle schwer krank oder verletzt. Als Ärztin versuche ich die Patienten bestmöglich zu behandeln. Sei es, dass ich zur Genesung beitrage, oder ihr Leiden lindern kann.

Wollten Sie schon immer Intensivmedizinerin werden?

Ursprünglich wollte ich Neurourologin werden. Aber das komplexe Feinstmotorisch-Operative liegt mir nicht so. Deshalb habe ich den Facharzt für Innere Medizin gemacht. Doch da fehlte mir irgendetwas. Erst als ich auf der Intensivstation arbeitete, wusste ich: Das ist es.

Ein Traumjob also?

Die Ausbildung in diversen Spitälern war hart, meine Chefs sehr kritisch und fordernd. Ich habe ein paar Mal «aufs Dach bekommen». Aber das Fach hat mich nicht mehr losgelassen. Die technischen Apparaturen, das notwendige breite medizinische Wissen, der Austausch mit den Angehörigen und den Patienten, die sehr enge Zusammenarbeit mit der Pflege und den Kollegen der anderen Disziplinen: Das Zusammenspiel all dieser Faktoren ist sehr bereichernd, aber auch anspruchsvoll. Ausserdem ist eine ausgeprägte Teamfähigkeit gefordert, sonst funktioniert es nicht.

Patricia Stöcklin (40)…

…studierte in Basel Medizin. Nach Arbeitsstellen in Aarau und am Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) in Lausanne arbeitete sie fast vier Jahre am Inselspital in Bern, bevor sie Anfang 2019 als Leitende Ärztin auf die Intensivpflegestation (IPS) am KSB kam. Stöcklin lebt mit ihrem Partner in Zürich. Ausgleich findet sie unter anderem beim Kitesurfen und Skifahren.

Sind Sie schon einmal an Ihre psychischen und physischen Grenzen gestossen?

Ja schon. In meinem Job bin ich täglich mit Extremsituationen konfrontiert. Manche Fälle gehen mir sehr nahe. Das ist dann mehr als das reine Mitgefühl …

Was meinen Sie genau?

Professionell zu bleiben, mich vor den Angehörigen zusammenzureissen. Das fällt manchmal schwer. Gleichzeitig sind solche Momente wichtig. Würde es mich nicht ab und an «durchschütteln», würden mich Schicksale nicht mehr berühren, wäre ich am falschen Ort.

Ein Beispiel?

Nach einem Autounfall brachte die Ambulanz eine junge Frau mit schwersten Gehirnverletzungen auf die Intensivstation. Ich musste den Eltern sagen, dass ihr Kind nicht überleben würde. Und dass die junge Frau theoretisch als Organspenderin in Frage käme. Die Mutter lehnte das ab, ihre Tochter hätte das nicht gewollt. Der Vater schwieg. Eine Stunde später kam er zu mir: Doch, die Tochter habe einen Spenderausweis. Die Mutter bestätigte dies. Sie konnte sich in ihrer Trauer einfach nicht vorstellen, dass ihrem Kind Organe entnommen würden. Dass die beiden schliesslich doch zusagten, empfand ich als unglaublich grosszügige, menschliche Geste. Es war ein gleichzeitig schwerer, aber auch ein schöner Moment.

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«Die Begleitung der Angehörigen ist zentral; auch Wochen nach dem Tod dürfen sie uns anrufen, wenn sie Fragen quälen.»

Patricia Stöcklin

Leitende Ärztin Intensivstation

Wie kann man nach einem solchen Erlebnis weiterarbeiten?

Wir lernen, damit umzugehen. Zum einen in der täglichen Praxis. Schwierige Erlebnisse besprechen wir im Team. Wir dürfen einander jederzeit anrufen oder persönlich treffen, wenn wir jemanden brauchen. Zum andern werden wir während der Ausbildung geschult.

Nehmen Sie solche Erlebnisse mit nach Hause?

Ja klar, aber ich versuche, Beruf und Privatleben nicht zu vermischen. Manchmal rufe ich deshalb meine Kollegen oder Mitarbeiter von früher an. Sie wissen, wovon ich rede. Das hilft.

Stichwort Triage: Mussten Sie schon Menschen sterben lassen, weil kein Platz war?

Diese Vorstellung hat mir zu Beginn der Pandemie am meisten Sorgen gemacht. Aber zum Glück waren wir in Baden noch nie in dieser Situation. Sollte dieser Fall aber doch eintreten, orientieren wir uns an den klaren Richtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin. Ausserdem haben wir am KSB Ethikgruppen gebildet, mit denen wir uns zu schwierigen Fragen austauschen. Das gibt uns Sicherheit.

Bleibt denn überhaupt Zeit, solche Fragen zu besprechen?

«Ich habe keine Zeit» – das gibt es nicht. Punkt. Wir nehmen uns die Zeit. Immer.

Auch auf Kosten der eigenen Gesundheit?

(Denkt lange nach.) Vielleicht, ja. Für uns mag es manchmal hart sein, aber wir haben kein Recht zu jammern. Für die Betroffenen und die Angehörigen hingegen geht es um Leben oder Tod. Sie dürfen erwarten, dass wir uns Zeit für sie nehmen.

War Ihnen Anfang 2020 bewusst, was auf uns zukommt?

Ehrlich gesagt, nein. Als die Chinesen in Wuhan ihre Notspitäler aus dem Boden stampften, war das ein erstes beunruhigendes Signal. Während kurz darauf die erste Welle in Norditalien wütete, nahm ich Kontakt mit Freundinnen dort auf. Sie sagten mir: «Die Sache fliegt uns um die Ohren.» Da ist mir klar geworden, was uns erwartet.

Es wird viel über die Patientenverfügung gesprochen: Woher wissen Sie im Notfall, was ein Patient will?

Wenn der Patient eingeliefert wird, suchen wir systematisch nach Angehörigen oder dem Hausarzt. Erreichen wir niemanden, beginnen wir mit lebenserhaltenden Massnahmen. Im Zweifelsfall beginnen wir eine Therapie. Gegen den Willen der Angehörigen einen Patienten sterben zu lassen, ist grausam und schafft nur Misstrauen. Es gilt, sie zu begleiten und ihnen zu helfen zu akzeptieren, dass eine Therapie nicht mehr zielführend ist. Wir sind allerdings nicht verpflichtet, eine aussichtslose Therapie anzuwenden.

Patientenverfügung – bereit für den Notfall

In einer Patientenverfügung halten Sie notwendige Informationen für Ärztinnen und Ärzte sowie für das Pflegefachpersonal fest, falls Sie selbst nicht mehr urteilsfähig sind. Beispielsweise halten Sie in diesem Dokument fest, ob Sie lebenserhaltenden Massnahmen wie künstliche Beatmung beanspruchen wollen.

Informieren Sie sich zur Patientenverfügung
Wie das?

Weil wir in diesem Fall einem Patienten nicht helfen würden, sondern nur Leiden produzieren ohne Aussicht auf Heilung.

Und wenn die Familie sich trotzdem gegen Ihren Entscheid stellt?

Es braucht oft viele und lange Gespräche. Viel Einfühlungsvermögen. Viel Zeit. Manchmal braucht es eine ethische Beurteilung, um eine unabhängige Begutachtung und Bewertung des Falles zu bekommen. Es ist die Aufgabe des Behandlungsteams zu beurteilen, ob eine Weiterführung der Therapie sinnvoll und im Sinne des Patienten ist. Auf keinen Fall darf man den Entscheid einer Änderung des Therapieziels auf eine leidlindernde und würdevolle Sterbebegleitung den Angehörigen alleine überlassen. Durch die emotionale Bindung der Angehörigen ist die Beurteilung und Entscheidungsfindung nicht rational. Solche Fragen belasten viele Angehörige. Die Begleitung der Angehörigen ist zentral; auch Wochen nach dem Tod dürfen sie uns anrufen, wenn sie Fragen quälen.

Wovor fürchten sich Patienten am meisten?

Viele Menschen sagen mir: Wenn ich nicht mehr da bin, geht mich der Tod nichts mehr an. Mit dem Sterben ist es eine andere Sache: Niemand will leiden oder alleine sterben. Was mir ganz wichtig ist: Bei uns auf der Intensivstation am KSB stirbt niemand alleine. Wir sind da.

Intensivstation am KSB

Intensivstation am KSB Die Intensivstation ist für Patientinnen und Patienten in kritischer körperlicher Verfassung oder akuter Lebensgefahr vorgesehen. Haben Sie Fragen zu Sinn und Zweck der Intensivmedizin oder zu Besuchszeiten der Station? Unsere Expertinnen und Experten helfen Ihnen gerne weiter.

Zur Intensivstation

Text Gaston Haas • Foto Tim Orubolo • Geprüft von Patricia Stöcklin

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